Susanne Stamm, Sozialbegleiterin
Neues Rollenverständnis
Eveline Schaller ist begeistert von ihrer Arbeit, das spürt und sieht man, wenn sie mit Bewohner/innen und Teamkolleg/innen spricht. Ein Thema, das sie als Sozialpädagogin häufig beschäftigt, ist das Rollenverständnis in der Betreuung von beeinträchtigten Personen. «In den letzten zehn Jahren hat sich in der so-zialen Arbeit viel getan. Das macht sich auch in unserer Institution bemerkbar. So wird der Mensch als eigenständige, erwachsene Person wahrgenommen. Selbstbestimmung war vor ein paar Jahren noch ein Reizwort. Heute arbeiten wir intensiv daran Ressourcen zu nutzen, Angebote zu machen und die Betreuten Entscheidungen treffen zu lassen», erklärt Eveline Schaller. Sie ergänzt, dass in der sozialen Arbeit die Rolle der Betreuer/innen über die Fürsorge hinausgeht, sie sich vielmehr als Assistenz begreifen und mit den Betreuten auf Augenhöhe kommunizieren müssen.
«Ich glaube, wenn dieses Umdenken weiter stattfindet, wir auch gut auf die Herausforderung reagieren können, um genügend Fachpersonen im Bereich Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung auszubilden. Momentan dürfte es von ihnen gerne noch ein paar mehr geben», schmunzelt sie.
Erfindertum und Empathie
Trotz seiner ruhigen Naturidylle liess das Pandemie-Jahr auch den Götschihof nicht ganz kalt. «Natürlich hatten wir durch die Umstände einen höheren Pflegeaufwand. Seit den Massnahmenlockerungen ist die Teilhabe am Alltag dafür wieder deutlich einfacher geworden. Kleinere Ausflüge, Botengänge, Besuche zu anderen Wohngruppen oder gruppenübergreifende Aktivitäten führen sofort zu mehr Zufriedenheit und Ausgeglichenheit», bestätigt Eveline Schaller.
Als die Sehnsucht der Bewohner/innen nach dem Kontakt zu Angehörigen am grössten war, machten einzelne Mitarbeitende den Zugang über ihr Handy mit Videotelefonie möglich. Oder es wurden kleine Aussenkonzerte organisiert, die für Abwechslung sorgten. Eine Mitarbeiterin der Wohngruppe habe die Erlaubnis eingeholt, digitale Postkarten mit Fotos der Betreuten an die Angehörigen zu versenden. Die Karten kamen nicht nur bei ihnen gut an. Zur Überraschung und Freude der Mitarbeiterin meldete sich sogar die Firma, über die sie die Postkarten versendete, und bot ihr den Versand umsonst an.
Bewegendes begleiten
Eveline Schaller erinnert sich an besonders bewegende Momente: «Rührend war für uns alle, als Begegnungen wieder stattfanden durften. Die freudigen Stimmen, die glänzenden Augen, die Umarmungen. Eine Geschichte hat mich sehr berührt. Eine Bewohnerin hat nach der ersten Öffnung Besuch von ihren Eltern bekommen. Wenn sie die Mutter bei früheren Besuchen erblickte, zeigte sie kaum Reaktionen. Ist sie in guter Tagesform, erzeugt sie mit ihrer Stimme Klänge, die, wenn es ihr sehr gut geht, in eine Melodie übergehen. An diesem Tag war es anders. Die Bewohnerin steuerte auf die Mutter zu. Dann umrahmte sie mit ihren Händen sanft das Gesicht ihrer Mutter und schaute sie eine Zeitlang ruhig an. Es war ein sehr spezieller, emotionaler Moment.»
Eveline Schaller betont, dass ihre Aufgabe genau darum so schön sei. Weil sie in solchen Momenten die Bewohner/innen und ihre Familien begleiten dürfe. «Aus diesem Grund wünsche ich mir für die sozialen Berufe mehr Anerkennung. Unsere Arbeit ist eine anerkannte Disziplin, wissenschaftlich fundiert, in allen Bereichen wird viel Verantwortung gefordert. Wir leisten wertvolle Arbeit dabei, unser Bewohner/innen zu unterstützen und ihre Angehörigen zu entlasten. Unsere Berufe haben einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass der Wert unserer Arbeit in Zukunft noch sichtbarer wird.»